Wer würde sich nicht geehrt fühlen, einen so bedeutenden Vorfahren in seiner Familie zu haben? Ich selbst war fast sechs Jahre alt, als mein Großvater kurz vor Weihnachten 1954, im stolzen Alter von 89 Jahren, in unserer gemeinsamen Wohnung verstarb, umgeben von seiner Familie.
Ich erinnere mich daran, wie er täglich in seinem weißen Kittel die zwei Stockwerke von unserer Wohnung hinab in seine Firma im Erdgeschoss ging. Wir Kinder überholten ihn oft auf den Treppen zu seiner Werkstatt, indem wir die letzten Stufen in einem Sprung hinuntersprangen, was ihm nicht gefiel.
Auf die Frage, ob unser Großvater auch mit uns Kindern spielte, muss ich leider verneinen. Mein Bruder und ich, die wir nur ein Jahr auseinander waren, hatten uns gegenseitig als Spielpartner. Wenn überhaupt, dann spielten wir mit unserer Großmutter, aber nie mit unserem Großvater. Es war eben eine andere Zeit.
Die Familienfeste mit unseren Großeltern, wie etwa ihre Goldene Hochzeit, feierten wir im Wohnzimmer unserer großen Wohnung. Dort stand eine alte, handbemalte Stehlampe, auf deren Schirm eine farbige Postkutsche mit Pferden, Reitern und Mitreisenden abgebildet war – ein Stolz meines Opas. Diese Lampe überlebte allerdings nicht lange, denn mein Bruder und ich stießen sie eines Tages im Spiel um, und der Schirm zerschellte an einer Tischecke. Meine Mutter blieb die Luft weg, und die Folgen für uns möchte ich lieber nicht beschreiben.
Im Badezimmer stand eine alte Kugelwaschmaschine aus den 1920er Jahren, die fast täglich lief. Der freilaufende Keilriemen machte es für uns Kinder verboten, das Bad zu betreten – ein Zustand, der aus heutiger Sicht völlig unvorstellbar ist. Der Kupferkessel sah beeindruckend aus, besonders wenn er frisch geputzt war.
In der gemeinsamen Küche hing ein altes Haustelefon, das direkt mit der Firma verbunden war. Es ersparte das ständige Treppauf und Treppab.
Unsere Großmutter konnte nicht mehr gut laufen, daher übernahm unser Großvater die damals übliche tägliche Einkaufsarbeit. Bevor er das Haus verließ, legte Großmutter großen Wert auf seine ordentliche Erscheinung. Im Flur richtete sie seinen Schal und Kragen und überprüfte, ob alles ordentlich geknöpft war. Als Kinder empfanden wir es als merkwürdig, dass nicht nur wir, sondern auch unser Großvater so sorgfältig 'angezogen' wurde. Er verließ übrigens nie ohne Hut das Haus. Es war damals üblich, den Hut leicht zu heben, wenn man einen Bekannten traf. Begegnete er Nachbarn oder Bekannten auf der Straße, kam es oft zu längeren Unterhaltungen. Erhielten wir Besuch, mussten wir Kinder zur Eingangstür gehen und den Besuch mit einem höflichen 'Diener' begrüßen.
Nach Feierabend besuchte er uns oft in unserem Zimmer und sah meinem Bruder und mir beim Spielen zu. Wenn er mich auf den Schoß nahm, spürte ich seine 'harten Knochen'. Er war schon alt und recht dünn.
Mein Großvater war schlank und etwa 1,70 Meter groß. Aus Erzählungen in der Familie weiß ich, dass er eine Respektsperson war. Wenn er ein Zimmer betrat, verstummten die Gespräche, und alle warteten gespannt auf seine Worte. Einerseits war er sehr familienorientiert, andererseits würde man ihn heute als 'Workaholic' bezeichnen. Er hatte wenig Geduld für familiäre Spannungen, denn die Belange der Firma standen stets im Vordergrund. Oft musste die Familie hinter den Geschäftsinteressen zurückstehen. Alles drehte sich um die Zufriedenheit der Kunden und um die Qualität seiner Produkte – hier ließ er sich nicht hineinreden. Journalisten gegenüber war er eher abweisend; sie störten ihn, besonders bei Jubiläen der Thermosflasche oder runden Geburtstagen, wenn sie sich bei ihm zuhause die Klinke in die Hand gaben.
Mein Großvater war auch sehr reiselustig. Einige Fotos, die ihn und unsere Familie zeigen, sind erhalten geblieben. Sie zeigen ihn im Urlaub an der Ostsee, auf Usedom und Rügen. In einem Warnemünder Bade-Anzeiger wird sein Besuch mit der Familie im Juli 1913 sogar auf der Titelseite erwähnt.
Selbst ein Jahr vor seinem Tod im Jahr 1954 unternahm mein Großvater noch einen Urlaub in Bansin mit unserer Mutter und uns Enkelkindern. In den Sommern 1952 und 1953 besuchte er uns für einige Tage an der Ostsee. Diese Reisen waren für ihn in seinem Alter sicherlich beschwerlich. Als Kind war ich beeindruckt, wie mühelos mein Großvater durch den tiefen Sand zu unserem Strandkorb gelangen konnte. Jeder Strandkorb war von einer tiefen 'Strandburg' umgeben, die man erst umgehen musste, um zum Wasser zu gelangen. Heutzutage wäre das nicht mehr erlaubt, da die Holzkörbe bei Regen unter Wasser standen…
Die Gesundheit meinte es gut mit ihm. Bis zum Schluss brauchte er keine Brille, kein Hörgerät und auch keinen Spazierstock. Krankheiten kannte er nicht. Sonntags war sein einziger freier Tag, an dem er in die Kirche ging. Wie unser Vater berichtete lief er oftmals in seiner Jugend bei Wind und Wetter von Glashütte in die einige Kilometer entfernte Kirche zum Gottesdienst nach Baruth. In Berlin-Pankow war es die Alte Pfarrkirche in der "Breite Str.".
Seine Glasbläserei, in der er zum Schluß mit zwei seiner Söhne arbeitete, war für uns Kinder alltägliche Anlaufstelle. Im Büro stand nämlich ein Fernseher! Nur eines durften wir nicht – klingeln -, wenn gearbeitet wurde. An der Tür konnte man es hören. Die notwendige Schmelztemperatur zur Glasbearbeitung erreichte man nur, wenn zusätzlich Sauerstoff zur Flamme zugeführt wurde. Für uns war das ein ohrenbetäubender Lärm. Hätten sie uns die Türen geöffnet, was auch schon mal vorkam, dann war ihre Arbeit umsonst und es gab mächtigen Ärger. Durch die Zugluft sprangen die heißen Gefäße wortwörtlich wie Glas
Oft hatte ich die Gelegenheit, die Herstellung doppelwandiger Gefäße mit 2 oder 5 Litern Volumen zu beobachten. Im Blasraum war ein U-Rohr-Manometer an der Wand befestigt, um den aktuellen Gasdruck zu messen. Sobald der Gasdruck – was in Berlin-Ost nicht immer gegeben war – stimmte, begann der Blasvorgang. Die äußere Glaskugel war ein vorgefertigtes Teil. Die innere Kugel wurde aus drei Elementen hergestellt: einem zylindrischen Mundstück, einem zylindrischen Glasrohr für den Mittelteil und einem dickeren Glasrohr für den Kugelteil, aus dem später die innere Kugel geblasen wurde. Diese drei Teile wurden präzise verschmolzen und mussten exakt auf das geplante Volumen der Kugel abgestimmt sein, also in Durchmesser, Wandstärke und Länge.
Nur der Teil des Rohglaskolbens aus dem die Kugel geblasen wurde, ist von einem Onkel (Reinhold Burger jr.) in einer langen Prozedur bis zu einer bestimmten Temperatur über der Flamme erhitzt (übrigens ohne berührungsloses Digitalthermometer, die Glasbläser hatten ein Gefühl dafür) worden. Zusätzlich wurde mit einem weiteren Gebläse -manuell geführt durch meinen anderen Onkel- das spätere Kugelteil erhitzt. Der benötigte Sauerstoff kam aus der Sauerstoffflasche. Gleichzeitig wurde noch über einen sogenannten Exhaustor Sauerstoff über das Gebläse in die Flamme gegeben, um höhere Schmelztemperaturen zu erreichen. Eine sehr laute Angelegenheit. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Von den hohen Temperaturen in der Werkstatt ganz zu schweigen. 50 Grad C und mehr waren keine Seltenheit.
Kurz vor dem Einblasen erhitze mein anderer Onkel (Siegmund Burger) die äußere Glaskugel, um einen gewissen Temperaturausgleich zu erhalten. Dann hielt er sie in einem Winkel von ca. 70 – 80 Grad in die Höhe und mein Onkel schob den heißen Rohglaskolben vorsichtig durch die zylindrische Öffnung in die Glaskugel. Jetzt wurden vom Glaskugelhalter lautstark Kommandos gegeben. Aus dem Rohglaskolben entstand durch die Handfertigkeit und dem Lungendruck langsam -wie von Geisterhand- eine innere Kugel. Ca. 1,5 bis 2 cm vor der Wandung der äußeren Kugel wurde das „Einblasen“ beendet. Die Kunst bestand darin, wenn möglich, in einem Atemzug die innere Kugel zu blasen, denn erneutes tiefes Luft holen führte zu kühlerer Luft, was zum Glasbruch führen würde. Mein Onkel war bei dieser Prozedur knallrot im Gesicht.
Mir taten beim Zusehen die Ohren weh und ich stand im Schweiß, aber nicht nur ich.
Anschließend wurde das doppelwandige Gefäß stundenlang langsam abgekühlt und dann weiter bearbeitet bis zum Versilbern und Evakuieren. Das weitere Prozedere und das Rezept für die dauerhafte Versilberung war ihr Know-how und das soll auch so bleiben.
Wenn ich mich richtig erinnere, dann erhielt er für diese Gefäße 60 Mark der DDR.
In der Firma gab es zwei Zimmer, die mit Stuck verziert waren und aussahen wie in einem
Museum. Den ersten kleinen Raum schmückte ein weißer alter Ofen, ein massiver Geldschrank, sein „Kaltes Rotlichtgerät“, ein Museumsschrank, in dem in Dresden 1911 Burgers Röntgenröhren
ausgestellt wurden und eine kleine Glasvitrine mit verschiedensten Thermometern.
In den letzten Kriegstagen 1945 durchschlug ein kleiner Granatsplitter die Fensterscheiben zur Straße, durchschlug anschließend auch die Scheibe des Museumsschrankes und mittig die große
Röntgenröhre. Wie durch ein Wunder wurde sie nicht zerstört. Nur ein Loch ist bis heute zu sehnen.
An der Wand hingen seine zum Teil vergilbten Auszeichnungen. Weltausstellung St. Louis 1904, Mailand, Dresden und Rom standen auf den Urkunden. Für uns Kinder war das weit weg. In einer Ecke stand sein Rotlichtgerät „Frigisolair“ zur medizinischen Bestrahlung, das oft von der Familie und von Nachbarn frequentiert wurde. Kunden und Besucher empfing unser Großvater in diesem Raum.
In dem zweiten größeren Zimmer überragte ein massiver alter Eckofen, der bis zur Decke reichte das gesamte Inventar. Geheizt hat er nicht, aber schön sah er aus. Die Wände waren voller Aktenschränke und zwischendurch lugten die bemalten Rosentapeten hervor und nicht zu vergessen sein alter Schreibtisch am Fenster. Auf den Tischen lagen Konstruktionszeichnungen der Kunden und div. Unikate seiner Glasbläserkunst. Die Decke war bunt bemalt und gab dem Raum etwas museales. In diesem tollen Ambiente wurden auch einige Geburtstage und Jubiläen mit unseren Großeltern gefeiert, immer begleitet von Reden, die einer seiner Söhne hielt.
Daneben der Blasraum. Die Decke war schwarz. Die große Hitze sorgte für diese „Bemalung“. Der Raum war voller Rohglaskolben, Glasrohre in verschiedenen Durchmessern und zylindrischer und
kugelförmiger Gefäße. Beim Durchlaufen hieß es Bauch einziehen und bloß nicht irgendwo anstoßen oder etwas anfassen. Drei Glasbläser Tische standen nebeneinander und ein weiterer, der meines
Großvaters, an der Rückseite des Raumes. Neben jedem Tisch stand eine gesicherte große Sauerstoffflasche.
An den Blasraum schloss sich der Raum zum Evakuieren der Gefäße an. Ein großer Schrank voller notwendiger Chemikalien, gut verschlossen stand an einer Wand des Raumes. Kurz unter der Decke waren Gerätschaften für das Evakuieren und zum Betreiben von Röntgenröhren befestigt, die aber schon seit etlichen Jahren nicht mehr benötigt wurden. Auf dem Fußboden stand ein riesiger Akkumulator, mit dem eine Röntgenanlage betrieben werden konnte.
Eine große Selbstbauanlage mit bis zu 32 Anschlüssen zum Luftleerpumpen der doppelwandigen Gefäße stand in
mitten des Raumes. Ein absolutes Unikat! Dicke Gasrohre führten durch beide Räume.
Zum Thema „Gasrohre“ fällt mir noch ein: Unser Opa brachte sich 1907 -von seiner dritten USA Reise - einen großen Schneideisenhalter (ca. 1 m lang) zum Gewindeschneiden per Hand aus New York mit.
Ein Prismenspanner für die Rohre und auswechselbare Schneideisen für verschiedene Rohrdurchmessern gehörten dazu. Selbst heute ist das Schneiden von z. B. einem 1 Zollgewinde per Hand in einem
Arbeitsgang kein Problem und auch leicht zu Händeln (siehe Foto unten).
Unser "Reich" eröffnete sich nach diesen Räumen. Eine kleine mechanische Werkstatt mit allem was man dazu braucht: div. elektrische Gerätschaften, wie alte Haustelefone, Messgeräte und Detektorempfänger (mit Kopfhörer) zum einfachen Radioempfang, alte Radios waren für uns ein Bastelparadies - und immer wurde uns geholfen. Alles funktionierte noch!
War das sein erstes „Radio“, ein Detektorempfänger aus den zwanziger Jahren? Mit der kleinen Nadel suchte man auf dem Kristall den Sender.
Eine alte Kärgerdrehbank mit allem Zubehör, Werkzeugschränke mit Fächern für Feilen, Zangen, Handbohrmaschinen, Nägel, Nieten und Schrauben, eine Richtplatte mit Schraubstock, riesige Regale mit elektrischen Bauelementen, kleine Kabeltrommeln, Volt- und Amperemeter usw.. Hier "fummelten" wir stundenlang und konnten auch Weich- und Hartlöten.
Ich erinnere mich an mehrere Versuche, eine Weihnachtskugel für meine Eltern zu blasen. Mein Onkel hatte mir das mehrmals vorgemacht und ich glaubte, das kannst du auch. Selbst nach unzähligen Versuchen war sie mehr eine Wurst als eine Kugel. Es ist gar nicht so einfach, den richtigen Temperaturzeitpunkt zum Starten zu erwischen. Das heiße Glasrohr muss beim Blasen permanent gedreht werden, sonst wird es eine Wurst und keine Kugel.
Bis 1982, als ein Onkel verstarb, existierte die Firma und fertigte glastechnische Apparaturen für Chemisch-Physikalische Institute. Unser Vater Helmut Burger konnte das komplette Inventar der Firma bis nach der Wende retten und somit den gesamten technischen Inhalt einschließlich des Schrift- und Rechnungsverkehrs. Seine Vorstellungen zielten immer auf ein Museum. Den Vorschlag von seinem Geburtsort Glashütte/Baruth, den gesamten Nachlass in einer Dauerausstellung auszustellen, war für uns die Rettung. Wir nahmen in dankend an.
Wir bedauern sehr, dass wir unseren Vater und unsere 3 Onkels zu Lebzeiten nicht mehr nach unserem Großvater und seinen großartigen Erfindungen befragt haben. Seine Schul- und Lehrjahre in Glashütte und in Berlin, seine drei langen USA Reisen, Besuch der Weltausstellung in Paris, Kontakte mit dem Präsidenten der American Thermos Bottle Company William Walker, mit Robert Koch, Manfred von Ardenne, dem Eismaschinenhersteller von Linde, Hermann Gocht, seine Compagnons Aschenbrenner und Paalen, vielleicht auch Conrad Röntgen (bisher leider nicht nachweisbar) usw. um nur einige zu nennen, wären Gesprächsstoff ohne Ende. Auch seine langjährige Sekretärin, Elisabeth Rothbart, die 1985 im hohen Alter von 97 Jahren in Berlin-Pankow verstarb, hätten wir befragen können.
Unser Vater, Helmut Burger erzählte uns, dass alle Söhne öfters Essen in die Chausseestr. zu ihrem Vater bringen mussten. Manchmal haben sie das Fahrgeld gespart, um ins Kino zu gehen. Der Weg war zwar weit, aber im Thermosgefäß blieb das Essen warm.
Auch das Ausliefern von doppelwandigen Gefäßen gehörte zu den Aufgaben der Kinder, bringt mal schnell…
Wenn man jung ist, blickt man kaum in die Vergangenheit zurück, das kommt erst mit den Jahren.
Diese Webseite wurde mit Jimdo erstellt! Jetzt kostenlos registrieren auf https://de.jimdo.com